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Ein
geflügelter Spruch: „Glaube keiner Statistik, die du
nicht selbst gefälscht hast”, in dem nicht nur ein
kleines Körnchen Wahrheit steckt. In der Tat wird gerade
mit Zahlen heute ein erschreckendes Unwesen getrieben - von solch
erschreckender Normalität und Selbstverständlichkeit,
dass ihre Aussagekraft nur noch in eher seltenen Ausnahmefällen
hinterfragt wird.
Der
Stolperstein, der noch heute regelmäßig zum kollektiven
Massensturz führt, wurde dabei schon im 17. Jahrhundert platziert.
Genauer: von Galileo Galilei, der im Jahr 1632 definierte, dass
sich nur als „Wissenschaft” bezeichnen darf, was sich
mathematisieren lässt.
Zwar hatte Galilei damals nichts anderes als materielle Körper
und geometrische Formen im Sinn, doch um sich ebenfalls das Etikett
der „Wissenschaftlichkeit” aufpappen zu können,
wurde der Maßstab der Mathematisierungsfähigkeit über
die Jahrhunderte klammheimlich auch auf Bereiche übertragen,
die mit mathematischen Berechnungen nicht das geringste zu tun
haben. Nämlich auf Bereiche, die sich mit dem Denken und
Verhalten beschäftigen, mit Gemüt und Bewusstsein („Psyche”),
mit Situationen und Abläufen aller Art.
Das
ist - unter der Oberfläche - der tatsächliche Grund,
warum heute mit Zahlen nur so um sich geworfen wird, warum permanent
nach Studien und Statistiken verlangt und sich darauf berufen
wird, um Entscheidungen zu rechtfertigen: nicht, weil diese Zahlen,
Daten und die daraus gebastelten Tortengrafiken tatsächlich
irgendeine Relevanz hätten, sondern um das Ganze „Wissenschaft”
nennen zu können mit dem bloßen Anschein von Exactheit,
Neutralität und „Objektivität”.
Der Knackpunkt
ist: im Gegensatz zu den Einsatzgebieten der (z.B.) Physik und
Geometrie, wo sich materielle Körper und Formen hochpräzise
vermessen und berechnen lassen, ist das beim Denken und Verhalten
von Menschen, bei Geist und Bewusstsein, bei Situationen und Abläufen
eben nicht möglich.
Sondern: vielmehr müssen alle diese Zahlen (wie immer man
sie auch „ermittelt” hat) immer und in jedem Fall
in einen Zusammenhang gesetzt und interpretiert(!)
werden. Doch Interpretation ist nun einmal absolut subjektiv und
damit das genaue Gegenteil dessen, was man unter („objektiver”)
Wissenschaft versteht und das genaue Gegenteil des Anspruches,
den die Wissenschaft selbst erhebt.
Beispielhaft
für solche Interpretationsmöglichkeiten zu nennen, die
das Gegenteil der Exactheit sind, die man von Wissenschaft erwartet,
ist die „nachgewiesene” Behauptung, dass das Reisen
im Flugzeug deutlich sicherer sei als Bahnfahren, da je zurückgelegtem
Kilometer in der Bahn dreimal so viele Menschen sterben, wie im
Flugzeug. Jedoch: es verhält sich genau umgekehrt, wenn man
die Verkehrstoten nicht auf die Kilometerstrecken bezieht, sondern
auf die Reisedauer. Dann nämlich sterben pro Stunde im Flugzeug
dreimal so viele Menschen wie in der Bahn - und zwar ebenfalls
„nachgewiesen”, da es sich um ein- und dieselbe Statistik
handelt.
Wenn
es also oftmals so schön heißt „Die Zahlen lügen
nicht”, dann stimmt das immerhin insofern, als dass sie
weder lügen noch überhaupt etwas aussagen. Es sei denn
eben, man gibt(!) diesen Zahlen eine Aussagekraft, indem
man sie interpretiert - und genau an dieser Stelle wird die Angelegenheit...
knifflig.
Auch
hier beispielhaft: in einer bestimmten Region Deutschlands ist
die statistische Kriminalitätsrate sprunghaft angestiegen.
Prompt wird über die Medien die Frage aufgeworfen, ob sich
der Bürger überhaupt noch sicher fühlen kann. Jedoch:
wie der zuständige Polizeichef meinte, findet in seinem Bezirk
keineswegs mehr Kriminalität statt als früher, sondern
es werden mittlerweile mehr Polizeibeamte eingesetzt, die dem
entsprechend mehr ermitteln und mehr Straftaten verfolgen, wonach
der Bürger eben nicht gefährlicher, sondern sicherer
lebt.
Wie
Kriminologen in Bezug auf Kriminalitätsstatistiken immer
wieder hinweisen, ist das Ganze nicht nur abhängig davon,
wie viele Straftaten überhaupt angezeigt bzw. ermittelt werden
(Stichwort „Dunkelziffer”), sondern schon der Begriff
„Kriminalität” ist eine reine Interpretationsfrage:
was genau ist „kriminell” und was (noch) nicht?
Noch
um einiges prekärer, weil noch um einiges tiefer unter der
Oberfläche, lauert die jeweilige Idee hinter einer
Statistik und Datenerhebung. Denn:
Wenn
jemand auf die Idee kommt, die Verkehrstoten zu zählen und
anhand der einzelnen Verkehrsmittel zu sortieren, wenn jemand
anderer auf die Idee kommt, Straftaten zu zählen und etwaige
regionale Anhäufungen auszuwerten, und wenn jemand anderer
auf die Idee kommt, die Kunden seines Unternehmens nach deren
Zufriedenheit zu befragen u.ä., dann sind das durchaus legitime
Beweggründe mit denen ein durchaus legitimer Zweck verfolgt
wird.
Etwas
anderes ist es jedoch, wenn eine Zeitung eine Umfrage in Auftrag
gibt, ob und wieviele Menschen sich „die Berliner Mauer
wieder zurückwünschen”, wie vor ein paar Jahren
geschehen, mit dem angeblichen Ergebnis, dass das bei rund 20%
der Menschen der Fall sei - wodurch „die Mauer in den Köpfen”
von jeweils Ost- und Westdeutschen einige Tage die Schlagzeilen
beherrschte.
Man
muss sich dazu vorstellen, dass im Rahmen der Redaktionskonferenz
einer Zeitung die übliche Frage gestellt wurde, mit welchem
Aufmacher die nächsten Ausgaben erscheinen sollen; und das
üblicherweise eben in Form einer möglichst großen
Aufmerksamkeitsstärke(!). Wobei ein Redakteur offenkundig
auf die Idee kam, von einem Meinungsforschungsinstitut ermitteln
zu lassen, ob und wieviele Deutsche sich „die Mauer wieder
zurückwünschen”; was ebenso ganz offenkundig für
eine „gute Idee” gehalten und als Aufmacher verwendet
wurde.
Apropos „Aufmerksamkeit”:
Zahlen, Daten und Statistiken sind bestens geeignet, um die Aufmerksamkeit
von Menschen sehr unauffällig in bestimmte Richtungen zu
lenken - nicht selten werden Zahlenspielereien nur deshalb überhaupt
betrieben. So lassen sich Menschen allzu oft durch die scheinbare
Exactheit von Zahlen, meist in Verbindung mit dem Anschein von
„Wissenschaftlichkeit” täuschen. Die meisten
haben nie gelernt, auf das zu achten, was sich hinter Zahlen versteckt.
Wenn es etwa
heißt, dass sich Top-Models in der Modebranche durchschnittlich
im recht jungen Alter von 29 Jahren scheiden lassen, dann liegt
das weniger an ihrem Beruf, sondern es liegt hauptsächlich
daran, dass Top-Models in der Regel ab dem Alter von 30 Jahren
nicht mehr als Model aktiv sind. Es ist also nahezu unmöglich,
überhaupt ein Top-Model über 29 Jahre zu finden - ganz
davon abgesehen, ob es verheiratet ist und/oder sich scheiden
lässt.
Ähnliches
gilt für Ergebnisse von Umfragen: selbst wenn es heißt,
dass für eine so genannte „repräsentative”
Umfrage rund 1.200 „per Zufall ausgewählte” Menschen
befragt wurden, kann der Haken schon einmal in der Vorgehensweise
liegen, dass solche Meinungsforschungen in aller Regel per Telefon
stattfinden. Das nämlich heißt schon einmal, dass die
Meinung von Obdachlosen ohne Telefonanschluss nicht erfasst wird.
Und es heißt, dass sich durch die Uhrzeit der Anrufe sehr
elegant das vermeintliche Meinungsbild „anpassen”
lässt: wird etwa zwischen 11h00 und 14h00 angerufen, erreicht
man sicherlich mehr Arbeitslose als Berufstätige.
Zu dieser
allgemeinen Ver(w)irrung gesellt sich zwangsläufig die Ehrfurcht
vor dem Computer: in einer Zeit, in der Zahlen, Daten, Berechnungen,
Kalkulationen und Statistiken regieren, wird der Computer mit
seiner Rechenleistung zum Maß aller Dinge, der gänzlich
frei von menschlichen Unzulänglichkeiten und „gesundem
Menschenverstand” die ungeschminkte Wahrheit verkündet
- weshalb man ihm und seinen Programmen getrost Entscheidungsgewalt
verleihen darf.
So ziemlich
jeder wird bereits mindestens ein Mal mit einem Problem zu tun
gehabt haben, bei dem ihm ein Computer im Weg stand: bei einer
Behörde oder einem Kundenservice beispielsweise. Es wird
darauf verwiesen, was „der Computer sagt”, was „er
berechnet” hat und auf dem Monitor zu lesen ist; was zwangsläufig
absolut korrekt und die unzweifelhafte Wahrheit sein muss. Auch
dann, wenn der jeweilige Beamte oder Sachbearbeiter nicht die
geringste Ahnung hat, was sein Computer überhaupt mit welchen
Daten auf welche Weise berechnet - was er auch „nicht wissen
muss”, denn er ist schließlich kein Computerspezialist,
und damit wird die Angelegenheit für erledigt erklärt.
Wenn Computerprogramme
dann auch noch immer wieder gern als „künstliche Intelligenz”
bezeichnet werden, vermittelt das unterschwellig, als würde
Intelligenz (und damit eben auch: menschliche Intelligenz) nichts
anderes umfassen, als ein bloßes Abspeichern und Verarbeiten
von Zahlen und Daten - wodurch jedwede Emotion, Empathie, Zuversicht,
Glaube und sämtliche sonstigen Qualitäten ganz nebenbei
als unwichtig(er) oder gar irrelevant erscheinen - zum Beispiel
auch: gesunde Skepsis und Kritikfähigkeit.


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